Materialien „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ - Globales Lernen und Philosophie lernen

und Religionsunterricht


Buchhinweis


Stichworte: Geschichte, Kirchen Geschichte, Faschismus, Nationalsozialismus, Antisemitismus, Pius XII.












Bibliographische Angaben:

Kertzer, David I.: Der Papst, der schwieg. Die geheime Geschichte von Pius XII., Mussolini und Hitler. 2023. Aus dem Engl. von Tobias Gabel und Martin Richter. 704 S. . wbg Theiss. Darmstadt 2023. ISBN 978-3-8062-4502-8




ZUM BUCH:

Spätestens seit Rolf Hochhuths Stück „Der Stellvertreter 1963“ in Berlin uraufgeführt wurde, verlangten

Wissenschaftler und vor allem auch jüdische Organisationen vom Vatikan, die Archive für die Jahre des Zweiten Weltkriegs zu öffnen, um die Kontroverse um die Bewertung Pius XII. zu klären. Eine Kontroverse, die auf der einen Seite Pius XII. als »Hitlers Papst« bezeichnet - u.a. weil er nicht öffentlich gegen den Massenmord der Nazis an den europäischen Juden protestierte, auf der auf der anderen Seite von manchen Katholiken, die ihn gerne heiliggesprochen sähen, als heldenhafter Gegner des Faschismus und des Nationalsozialismus verklärt wird.

 

Am 2. März 2020 wurden die Archive mit den Dokumenten zur Amtszeit Pius XII. (1919–1958) im Vatikan für Wissenschaftler geöffnet. Der Autor gehört zu den Ersten, die das Archiv nutzten und die Dokumente bis heute auswerten.

In diesem Buch »Der Papst, der schwieg« geht es um die Geschichte des bis heute immer mehr umstrittenen Papstes Pius XII. besonders im Blick auf seine Beziehungen zu Italiens Diktator Benito Mussolini und Deutschlands »Führer« Adolf Hitler. In diesem Buch liefert der Autor

  • eine ausführliche Biografie des Papstes Pius XII.,

  • Antworten auf die Frage, weshalb Pius XII zur antisemitischen Politik in Italien und Deutschland , die Juden verfolgte und letztlich zur Vernichtung von über sechs Millionen Menschen im Holocoust schwieg,

  • Antworten zum Infornationsstand zu den Verbrechen der Achsenmächte in ganz Europa,

  • einen intensiver Blick auf die intensiv gepflegten Beziehungen zwischen Kirche und Faschismus in den Jahren 1939 bis 1945.  

> Auszüge aus einem Interview des Verlages mit dem Autor verdeutlichen:

https://www.wbg-wissenverbindet.de/aktuelles/blog/buecher-und-autoren/der-papst-der-schwieg-interview-mit-david-i.-kertzer

Frage (wbg): Welche Dokumente überraschten oder beeindruckten Sie bei Ihrer Forschung besonders?

 

David I. Kertzer: Das schockierendste und überraschendste war sicherlich die Entdeckung der Geheimverhandlungen, die Pius XII. mit Hitler über dessen persönlichen Gesandten Prinz Philipp von Hessen führte, kurz nachdem Pius XII. 1939 Papst wurde. Diese Verhandlungen waren so geheim, dass Hitler seinen eigenen Botschafter beim Heiligen Stuhl nicht einweihte. Dass der Vatikan diese Gespräche bis zu meiner Entdeckung im neu geöffneten Archiv acht Jahrzehnte lang geheim halten konnte, ist schon unglaublich. Noch aufschlussreicher war die Entdeckung von Protokollen der Treffen zwischen dem Papst und Hitlers Gesandtem. Sie sprachen deutsch. Pius XII., der von 1917 bis 1929 Nuntius in Deutschland gewesen war, sprach fließend Deutsch, worauf er sehr stolz war. Anscheinend hielt sich im Nebenzimmer ein deutscher Geistlicher auf – was von Hessen wohl nicht wusste –, der ihre Gespräche mitschrieb.

Ebenfalls sehr aufschlussreich unter den jetzt zugänglichen vatikanischen Dokumenten sind die Memos von Beratern aus der direkten Umgebung des Papstes, die ihm rieten, wie er auf die Appelle zur Verurteilung der Judenvernichtung reagieren solle. Es gab mehrere besonders dramatische Momente, so im Herbst 1942, als Präsident Roosevelt anfragte, ob der Papst Berichte über systematische Morde der Nazis an Juden bestätigen könne; dann der 16. Oktober 1943, als die SS 1260 Juden festnahm und zwei Tage in einer Militärschule direkt neben den Mauern des Vatikanstaats internierte, bevor sie 1000 von ihnen direkt nach Auschwitz schickte; und zwei Monate später nach dem Befehl von Mussolinis Marionettenregierung im Norden, alle Juden in Italien festzunehmen und in Konzentrationslager zu schicken. In jedem dieser Fälle findet man zuvor unbekannte Dokumente, die dem Papst raten, nicht zu protestieren, was er auch befolgte. Besonders interessant sind die Memos des Mannes, den der Papst als seinen Hauptexperten für jüdische Fragen ansah, Monsignor Angelo Dell’Acqua vom Staatssekretariat. Der tiefe Antisemitismus in Dell’Acquas Memos ist bezeichnend.

zum Autor:

David I. Kertzer ist Professor für Sozialwissenschaft, Anthropologie und italienische Studien an der Brown Universität in den USA. Bereits drei Mal wurde ihm der angesehene italienische Marraro-Preis für historische Studien verliehen. Sein Buch über Papst Pius XI. und den Faschismus, das 2015 mit dem Pulitzer-Preis gekrönt wurde, erschien 2016 bei der wbg unter dem Titel "Der erste Stellvertreter" und wurde insgesamt in 10 Sprachen übersetzt.( https://www.wbg-wissenverbindet.de/aktuelles/blog/buecher-und-autoren/der-papst-der-schwieg-interview-mit-david-i.-kertzer - Aufruf 24.4.2023)




Einordnung für die Bildungsarbeit

Am Ende des Buches fasst der Autor sein Urteil zusammen: „Misst man Pius XII: allein an seinem Einsatz für den Schutz der institutionellen Interessen der römisch-katholischen Kirche zu Kriegszeiten, so lässt sich sein Pontifikat mit einiger Berechtigung als Erfolg verbuchen. .... Nimmt man den Papst allerdings als moralische Führungsinstanz in den Blick, so hat Pius XII. versagt. Für Hitler hatte er gewiss nichts übrig, ließ sich aber von ihm und auch von Mussolini einschüchtern. In einer Zeit großer Unsicherheit hielt Pius XII. eisern an seiner Absicht fest, nichts zu tun, was einen der beiden Diktatoren gegen ihn aufbringen könnte. Und in diesem Bestreben war der Papst bemerkenswert erfolgreich“ (S. 553). In Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien für den Geschichts- und Religionsunterricht findet sich diese Sicht kaum. Hier wird gerne ein weit positivere Sicht auf das Verhalten der katholischen Kirche gegenüber Faschismus, Nationalsozialismus und Antisemitismus präsentiert.

Die neue Quellenlage nach Öffnung der vatikanischen Archive stellt für eine kritische Sicht – besonders auch nach den Arbeitsergebnissen dieses Buches – zzr Verfügung. Sie sollten auch für Schule und Bildungsarbeit schnell aufgegriffen werden.






Martin Geisz, 2023