Materialien „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ - Globales Lernen und Philosophie lernen


Buchhinweis


Stichworte:

Religion, Weltreligionen, Religionskritik, Theopoesie, Peter Sloterdijk












Bibliographische Angaben:

Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie. suhrkamp. Berlin 2020. ISBN: 978-3-518-42933-4

ZUM BUCH:

Da der Titel dieses Buchs mehrdeutig klingt, soll darauf hingewiesen werden, daß im folgenden weder vom Himmel der Astrologen noch von dem der Astronomen die Rede sein wird, auch nicht von dem der Raumfahrer. Der zum Sprechen gebrachte Himmel ist kein möglicher Gegenstand visueller Wahrnehmung. Doch drängten sich beim Blick nach oben von alters her bildliche Vorstellungen auf, von vokalen Phänomenen begleitet: das Zelt, die Höhle, das Gewölbe; im Zelt tönen die Stimmen des Alltags, die Höhlenwände werfen alte Zaubergesänge zurück, im Gewölbe hallen die Kantilenen zu Ehren des Herrn in der Höhe wider. Aus dem Gesamt von Tag - und Nachthimmel ergab sich seit je ein archaisches Konzept des Umfassenden. In ihm ließ sich das Ungeheure, Offene,Weite mit dem Beschützenden, Häuslichen in einem Symbol kosmischer und moralischer Integrität zusammendenken.  

Das Bild der ägyptischen Himmelsgöttin Nut, die, sternenbesetzt, über der Erde eine vorwärtsgewandte Brücke macht, bietet das schönste aus dem Altertum überlieferte Emblem eines Schutzes durch das Umgreifende. Dank ihres Abbilds ist der Himmel auch an den Innenseiten von Särgen gegenwärtig. Ein Toter, der im Sarg die Augen öffnete, würde durch den Anblick der Göttin in eine wohltuende Offenheit begleitet. Als der Himmel im Gang der Säkularisation seine Bedeutung als kosmisches Immunitätssymbol verloren hatte, wandelte er sich zum Inbegriff der Beliebigkeit, in der menschliche Absichten verhallen. ...

Im folgenden soll vorwiegend von mitteilsamen, hellen und zu Aufschwüngen einladenden Himmeln die Rede sein, weil sie, dem Auftrag poetologischer Aufklärung entsprechend, gemeinsame Herkunftszonen von Göttern,Versen und Aufheiterungen bilden.“ (S. 2f.) - so formuliert der Autor seinen Zugang am Anfang des Buches.

 

Theopoesie“ - sie bringt im Lauf der Geschichte der Menschheit immer „Gott oder die Götter“ zum Sprechen: Entweder reden sie unmittelbar selbst - oft von ausgewählten Menschen angenommen, bisweilen aufgeschrieben und überliefert und wird natürlich auch von Dichtern wiedergegeben. „Religionen berufen sich in ihren theopoetischen Gründungsdokumenten auf mehr oder weniger elaborierte literarische Verfahren, auch wenn die begleitende Dogmatik dazu dient, diese Tatsache vergessen zu machen. Religionen sind »literarische Produkte, mit deren Hilfe die Autoren um Klienten auf dem engen Markt der Aufmerksamkeit von Gebildeten konkurrieren«.1

 

 Religion, Religionen , haben zu allen Zeiten Menschen bei ihrer Suche nach „Sinn“ Antworten zu geben versucht, durchaus dadurch, dass sie die theopetischen Erzählungen in die Welt ihres Glaubens aufgenommen und zum Bestandteil der Religionen gemacht haben.  

Religionen haben in ihrer Praxis komplexe Systeme entwickelt, die letztendlich nicht an Theopoethik, sondern ihren eigenen Inhalten und Vorschriften, dem „rechten Glauben“, von dem nicht abgewichen werden darf/soll dienen.  

Eindrucksvoll wird diese Entwicklung in zwei Kapiteln zugespitzt (auf protestantische Ansätze bezogen:»Religion ist Unglaube«: Karl Barths Intervention // auf die katholische Kirche bezogen: Im Garten der Unfehlbarkeit: Denzingers Welt).

 

Das Verhältnis theopetischer Erzählung zu Religion und ihre Bedeutung für die (Stabilisierung und Rechtfertigung) gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse ist schon immer Gegenstand von Religionskritik (nicht nur in der Philosophie) gewesen und vielfältig kritisiert worden. Für Sloterdijk ist die Entwicklung weiter gegangen und hat letztlich zu einer neuen „Religionsfreiheit“ geführt. 

Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung haben Religionen über Jahrtausende hinweg (oft auch in der Form institutionaliserter Staatskulte, Nationalkirchen, letztentscheidender Moralinstanzen) wichtige stabilisierende Funktionen (auch in Philosophie und Wissenschaft) übernommen. („bedeutsame religionsförmige Funktionen offizieller Art „wie Kaiser und Fürstenkult, Staatsüberhöhung, Festkalenderpflege, Armeesegen, Eheschließung, Jugenderziehung, ... Seelsorge, Sexualitätslenkung, Krankenpflege, Armenbetreuung, Psychagogik, Beratung in letzten Dingen und Verwaltung der rites de passage .... erweisen sich nachträglich als sekundäre Leistungen, die ... an säkulare Agenturen abgegeben werden konnten ... “ S. 335).

Von diesen Funktionen sind Religionen immer mehr „befreit“worden - nicht zuletzt mit Hilfe von Religionskritik in vielfältigen Formen.

Sloterdijk spricht von Religionsfreiheit und Freiheit von Religion:

Der sichere Zeichen der jungen Freiheit für die Religion ist ihre überraschende, erhebende, skandalöse Nutzlosigkeit: sie ist überflüssig wie Musik, doch:’Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum’“ (S. 335)

 

Was von den historischen Religionen bleibt, sind Schriften, Gesten, Klangwelten, die noch den einzelnen unserer Tage gelegentlich helfen, sich mit aufgehobenen Formeln auf die Verlegenheit ihres einzigartigen Daseins zu beziehen. Das übrige ist Anhänglichkeit, begleitet vom Verlangen nach Teilhabe“ (S.336).

 

Inhalt


Vorbemerkung


I Deus ex machina, Deus ex cathedra

 

 Götter auf dem Theater

 Platons Einspruch

 Von der wahren Religion

 Gott darstellen, Gott sein: Eine ägyptische Lösung

 Vom besten aller möglichen Himmelsbewohner

 Poesien der Kraft

 In Plausibilitäten wohnen

 Die theopoetische Differenz

 Offenbarung woher?

 Göttersterben

 »Religion ist Unglaube«: Karl Barths Intervention

 Im Garten der Unfehlbarkeit: Denzingers Welt

 

II Unter hohen Himmeln

 Erdichtetes Zusammengehören

 Götterdämmerung und Soziophanie

 Herrlichkeit: Poesien des Lobs

 Poesie der Geduld

 Poesien der Übertreibung:

Die religiösen Virtuosen und ihre Exzesse

 Kerygma, Propaganda, Angebotsoffensiven oder: Wenn die Fiktion nicht mit sich spaßen läßt

 Von Prosa und Poesie der Suche

 Religionsfreiheit

 

Statt eines Nachworts


zum Autor:


Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel Strukturalismus als poetische Hermeneutik. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918–1933 promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch Kritik der zynischen Vernunft zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman Der Zauberbaum vor. Sloterdijk ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und war in Nachfolge von Heinrich Klotz von 2001 bis 2015 deren Rektor.“2




Einordnung für die Bildungsarbeit

Für Philosophie-, Ethik und Religionsunterricht gehört in der Sekundarstufe II die Beschäftigung mit religionskritischen Ansätzen zum Alltag.

Peter Sloterdijk bietet in diesem Buch einen neuen Blick. Er nimmt durch die Konzentration auf „Theopoesie“ - den Himmel zum Sprechen bringen ( die klassische Religionskritik durchaus „erweiternd“) Entwicklungen in Religions- und Literaturgeschichte in den Blick.

Religion/en können in vielen Gesellschaften zu einer neuen „Religionsfreiheit“ finden - nachdem die Entwicklungen die klassischen Aufgaben und Funktionen von Religion, die Gesellschaften und Machtverhältnisse stabilisieren sollten und stabilisiert haben in Politikzu einem Ende gebracht haben.

Der Schluss des Buches „„Was von den historischen Religionen bleibt, sind Schriften, Gesten, Klangwelten, die noch den einzelnen unserer Tage gelegentlich helfen, sich mit aufgehobenen Formeln auf die Verlegenheit ihres einzigartigen Daseins zu beziehen. Das übrige ist Anhänglichkeit, begleitet vom Verlangen nach Teilhabe“ (S.336) enthält viele Impulse für weiterführende Diskussionen auch im Unterricht.





xy



Martin Geisz, Dezember 2020



1https://www.suhrkamp.de/buecher/den_himmel_zum_sprechen_bringen-peter_sloterdijk_42933.html (Aufruf 19.12.2020)

2https://www.suhrkamp.de/autoren/peter_sloterdijk_4620.html (Aufruf 19.12.2020)